Open-Air-Veranstaltung mit Prof. Dr. Wolfgang Sannwald am 25. März 2023 vor dem alten Rathaus in Gomaringen

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Vortrag Wolfgang Sannwald 25.3.2023: Bürgermeisterwahl Gomaringen 1933 (Elsässer gegen Scheerer)

Open-Air-Veranstaltung mit Prof. Dr. Wolfgang Sannwald am 25. März 2023 vor dem alten Rathaus in Gomaringen

(leider hat die Gemeinde uns keine Möglichkeit gegeben diesen Text im Gemeindebote zu veröffentlichen)

Der Vorsitzende des Geschichts- und Altertumsvereins Gomaringen, Willi Kemmler, bedankt sich bei Wolfgang Sannwald für die 36-jährige Zusammenarbeit mit ihm.

 

Gomaringen am 25. März 1933: Letzte Schlappe für die Nazis

Vor dem Gomaringer Rathaus, 90 Jahre früher: Obwohl die Nazis reichsweit schon die Macht in Händen halten, verpassen ihnen die GomaringerInnen bei einer Bürgermeisterwahl noch einmal eine deutliche Schlappe. Ausgerechnet am Tag nach dem Ermächtigungsgesetz, als Hitler die Macht bereits in Händen hielt, unterlag der Kandidat seiner Partei hier an der Wiesaz. Die NSDAP tobte, welche Blamage!

Wir befinden uns am Ende eines Prozesses, den manche Historiker als „Machtergreifung“ bezeichnen. Der fängt an am 30. Januar 1933 mit der „Machtübergabe“ durch Reichspräsident Paul von Hindenburg an den Führer der NSDAP Adolf Hitler, indem er ihn zum Reichskanzler beruft. Der Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. Februar auf den 28. Februar 1933 bot der NSDAP Anlass, die Reichstagsbrandverordnung – Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat – von Reichspräsident Paul von Hindenburg erlassen zu lassen. Damit setzte der Präsident wesentliche Grundrechte der Verfassung außer Kraft. Seitdem nutzte die NSDAP staatliche Machtmittel, um ihre politischen Gegner zu verfolgen. Das sind Charakteristika eines Staatsstreichs. Der Prozess der Machtergreifung endete am 23. März 1933, als der Deutsche Reichstag dem „Ermächtigungsgesetz“ – Langversion: Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich - zustimmte, das am 24. März 1933 verkündet wurde. Mit dem 24. März war die Gewaltenteilung aufgehoben, die gesetzgebende Gewalt lag seitdem de facto beim Reichskanzler Adolf Hitler. Der Prozess der „Machtergreifung“ schloss also damit ab, dass Adolf Hitler die Macht im Deutschen Reich in seinen Händen hielt. Es geht um einen Zeitraum von knapp zwei Monaten, der Deutschland von einer parlamentarischen Demokratie über ein autoritäres Regime zu einem diktatorischen Führerstaat machte.

Und diesem Prozess widersetzte sich das „linke Milieu“ im Steinlachtal. Zu Beginn der „Machtergreifung“ riefen Mössinger Kommunisten am 31. Januar 1933 zum „Massenstreik“ auf, der Demonstrationszug mit Fabrikbesetzung ist heute als „Mössinger Generalstreik“ bekannt. Einen Tag nach der „Machtergreifung“, am 25. März 1933, versammelte sich hier in Gomaringen noch einmal eine Mehrheit gegen einen NSDAP-Kandidaten bei der letzten freien Bürgermeisterwahl. Der erlitt eine Schlappe, weil sich viele und darunter besonders SPD-Mitglieder, gegen ihn wandten. Was waren die Hintergründe?

  1. Das rote Steinlachtal

Aus den Verfahrensakten wegen Hochverrats vor dem Oberlandesgericht Stuttgart vom November 1933 zum Mössinger Generalstreik geht hervor, dass dort Kommunisten und deren Parteiorganisation zum Massenstreik aufgerufen hatten und ihn organisierten. Deren Kader stellten an die Zugspitze des Demonstrationszuges ihr Corporate Design voran, drei rote Fahnen. Das heißt aber nicht, dass alle Demonstranten Kommunisten waren.

Im Mössinger Demonstrationszug von Januar 1933 liefen etwa 700 Menschen mit, gegen die der Staatsanwalt seinerzeit nicht ermittelte. Sie entsprachen nicht seinem Täterprofil. Ich bezeichne sie als Angehörige des „linken Milieus“. Wenn man die Zusammensetzung der 81 Angeklagten vor dem Landgericht Tübingen heranzieht, stammten sie nicht nur aus Mössingen, sondern aus einem näheren Umland. Von den Angeklagten lebten damals 40 in Mössingen, 19 in Nehren, 15 in Belsen, 4 in Talheim, 2 in Bodelshausen und eine Person in Öschingen. Es handelte sich um Menschen aus dem „linken Steinlachtal“. Diesen politisch-geografischen Raum definiere ich von Bodelshausen im Westen bis Dußlingen und Gomaringen im Osten.

Hier bildeten vor allem ArbeiterInnen, PendlerInnen, aber auch nicht wenige Handwerker und ihre Familien zwischen 1919 und 1932 ein gemeinsames Wählerreservoir für SPD und KPD von durchschnittlich 45 Prozent aller Stimmen. Die evangelischen Pfarrer in Dörfern des Steinlachtals verzweifelten fast unisono an einer Bevölkerung, die „ziemlich revolutionär gestimmt“ oder „fast durchweg kommunistisch verseucht“ sei. Wie viele dieser „Linken“ wollten aber wirklich eine Diktatur des Proletariats nach stalinistischem Muster an der Steinlach errichten? Und wie viele trugen den kommunistischen Vorwurf des „Sozialfaschismus“ gegen die republikbejahende SPD mit? Fest steht, dass die politische Situation gegen Ende der Weimarer Republik eskalierte und vor allem der KPD Zulauf brachte. Im Steinlachtal erzielte die linksextreme Partei, die die Weimarer Republik substanziell ablehnte, im November 1932 durchschnittlich 28 Prozent der abgegebenen Stimmen. Ihre hiesigen Hochburgen hatten die Kommunisten – in der Rangfolge der Stimmanteile – in Bodelshausen, Nehren und Mössingen. Demgegenüber konnte die republiktragende SPD im linken Steinlachtal nur noch 17 Prozent hinter sich vereinigen. Und die gab es vor allem in Gomaringen. Hier erreichte die SPD noch im November 1932 32 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die KPD blieb im Dorf mit 12 Prozent „ziemlich schwach“. Mit dieser gemäßigt linken Opposition tat sich die NSDAP schwer. Sie sicherte der Weimarer Republik in Gomaringen längere Zeit eine Mehrheit als etwa in Mössingen, wobei auch Linksextreme die damalige Republik ablehnten. In Gomaringen blieb dadurch die SPD der Hauptfeind der NSDAP, nicht die KPD.

  1. Das christlich-pietistische Steinlachtal

Neben dem „linken“ Milieu im Steinlachtal gab es das andere Steinlachtal. Es war größer als das der „Linken“. Zu ihm gehörten im Steinlachtal des Jahres 1933 einerseits Menschen, die aus ihrer Situation als evangelische Christen heraus handelten. Nicht wenige von ihnen intensivierten ihr religiöses Leben dadurch, dass sie an den „Stunden“ der Hahn´schen oder altpiestistischen Gemeinschaften teilnahmen. Diese Gemeinschaften rieten längere Zeit von einem politischen Engagement ab.

Das änderte sich, als WählerInnen auf den Wahlzetteln den Christlich Sozialen Volksdienst (CSV) ankreuzen konnten. Diese evangelische Konfessionspartei hatte ihren württembergischen Schwerpunkt im Korntal und gewann insbesondere unter Anhängern pietistischer Gruppen – in zeitgenössischen Quellen heißt es „Stundenleuten“ - Rückhalt. Der evangelische Pfarrer von Dußlingen notierte: „Wir haben die kommunistisch-sozialdemokratische Linke einerseits, andererseits die pietistisch-orthodoxe Rechte, die demokratische, mehr oder weniger kirchliche Mitte ist schwach und hat wenig Initiative.“ Dem CSV gelang es bei den Wahlen 1930 frühere Nichtwähler im Umfeld der „Stunden“ zu aktivieren. In Belsen verdoppelte sich beispielsweise die Zahl der WählerInnen und im selben Maß steig die Stimmzahl für den CSV. Er schaffte es im Steinlachtal auf durchschnittlich 27 Prozent bei den Reichstagswahlen 1930. Im Mössinger Ortsteil Belsen verdoppelte sich damals die Wahlbeteiligung und die Wählerinnen und Wähler katapultierten den CSV auf 55 Prozent! Im bevölkerungsreicheren Mössingen erzielte er knapp 40 Prozent. Eine weitere Hochburg war Kusterdingen mit 30 Prozent, in Gomaringen erreichte er mit 25 Prozent ebenfalls hohe Zustimmungswerte.

Der CSV gewann vor allem dort, wo pietistische Kreise gut organisiert waren oder „Evangelisationen“ stattgefunden hatten. Bei solchen Erweckungsveranstaltungen predigten Missionare eine Woche lang vor Ort und wirkten auch in weitere Formen des Gemeindelebens hinein. Beispielsweise holte hier in Gomaringen der Ortspfarrer im Februar 1932 den Missionar Otto Lohß (1881–1961) aus Stuttgart-Fellbach. Der stand im Dienst der Basler Mission und trug seine Predigten zwar mit „zwingender Logik“, aber gleichzeitig „bilderreich“, „wohltuend“ und mit „herzandringender Wärme“ vor. Bei den emotionsgeladenen Veranstaltungen in der Gomaringer Kirche zählte der Ortspfarrer bis zu 1000 BesucherInnen, die auch aus dem Umland kamen: „Der Anblick der übervollen, mit gespannt lauschenden Zuhörern angefüllten Männerempore war überwältigend. Auch die Arbeiterschaft war am Wochenende und Sonntag stark vertreten.“

In vielen Gemeindearchiven unserer Region sind Flugblätter archiviert, mit denen sich die Nazis gezielt an die seit 1930 politisch erweckten evangelischen Christen Württembergs wandten: „Jeder wahre Christ, der für seinen Glauben kämpfen will, wählt … Nationalsozialisten ...“ Dieser Zielgruppe bot die NSDAP im Paragraphen 24 ihres 25-Punkte-Programms das „positive Christentum“ an, nämlich die „Freiheit aller religiöser Bekenntnisse im Staat, … soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen“. Hitler selbst appellierte in seinen Reden bewusst und häufig an die „göttliche Vorsehung“.

Zumindest bei der Gomaringer Evangelisation fiel das „positive Christentum“ auf fruchtbaren Boden. Missionar Lohß bekannte noch im Jahr seiner Gomaringer Missionswoche, 1932: „Wir wollen in Zukunft nicht erst warten, bis wir gerufen werden, sondern der NSDAP und auch dem Stahlhelm unsere Dienste ausdrücklich anbieten.“38 Er stieß in dasselbe Horn wie der Gomaringer Ortspfarrer Otto Hermann Schwarzmaier, der als regionaler Führer der Deutschen Christen im Evangelischen Gemeindeblatt für Gomaringen 1933 veröffentlichte: „Was die Nationalsozialisten im Staate sind, das sollen die Deutschen Christen in der Kirche sein, nämlich Sturmtrupps, die unter den Fahnen Jesu den Kampf aufnehmen gegen die Mächte des Un- und Aberglaubens.“

Die NSDAP erntete offenbar einen großen Teil der vom CSV mobilisierten und christlich eingestellten Wähler*innen im Steinlachtal. Zwischen 1930 und 1932 verloren die bürgerlichen Parteien und unter ihnen vor allem der CSV erdrutschartig von 47 auf 19 Prozent. In umgekehrtem Maße schnellte die NSDAP von sieben auf 34 Prozent empor. In Belsen hatte die Hälfte der Wähler noch 1930 dem CSV zum triumphalen Sieg verholfen, 1932 wanderten sie vermutlich fast komplett zur NSDAP ab. Gomaringens Pfarrer Schwarzmaier triumphierte in der Dezemberausgabe des Evangelischen Gemeindeblatts 1933: „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen. Jesus ist Sieger!“

  1. Die NSDAP in Gomaringen

Eine Ortsgruppe der NSDAP dürfte es in Gomaringen seit dem 1. November 1931 gegeben haben. Einen örtlichen Rückhalt hatte die NSDAP bei Carl Dölker senior und seinen beiden Söhnen Carl und Gerhard. Noch im Gründungsjahr der Ortsgruppe bekannten sich 11 Gomaringer zur Partei, von denen 10 bei Firma Dölker beschäftigt waren. Alle drei Leiter dieser NSDAP-Ortsgruppe waren Angestellte oder Arbeiter der Firma. Carl Dölker und seine beiden Söhne gaben später bei der Entnazifizierung an, dass sie am Programm der NSDAP vor allem das „positive Christentum“ und der Kampf gegen die „riesige Arbeitslosigkeit“ angesprochen hätten. Auch die persönliche Bekanntschaft mit Gottlob Berger dürfte eine Rolle für das politische Engagement gespielt haben. Der war damals noch Lehrer im nahen Wankheim, leitete aber bereits den SA-Sturm in Tübingen. Später machte Berger Karriere und wurde Leiter des SS-Hauptamtes in Berlin. Er war damals und blieb eine Ansprechperson für Gomaringer NSDAP-Akteure zunächst in der SA-Gruppe in Stuttgart, später auf Reichsebene in Berlin.

 

Die Bürgermeisterwahl

Vor diesem Hintergrund kam es in Gomaringen am 25. März 1933 zu einer Bürgermeisterwahl. Die reichsweiten Vorgänge hatten die Gemüter ohnehin schon erregt. Dazu kam eine besondere Konstellation im Dorf. Einerseits kandidierte der bisherige Bürgermeister Wilhelm Friedrich Elsässer (geb. 1892). Er soll nicht besonders beliebt gewesen sein, ihm soll es an „Freundlichkeit“ und „Entgegenkommen“ gefehlt haben, neigte wohl zu kurzen Bescheiden mit „Autorität“, wie seine eigenen Unterstützer schrieben. Als Mitglied im rechtskonservativen Frontkämpferbund „Stahlhelm“ stand er nicht gerade im Verdacht, „links“ zu sein.

Gegen ihn trat ein junger Verwaltungsbeamter an: Georg Kurt Scheerer (1906-1941). Scheerers Vater war der einstige Schultheiß Johann Georg Scheerer (1864-1916), der wesentliche Modernisierungsschritte für die Entwicklung Gomaringen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert unternommen hatte. Ein Bruder amtierte kurzzeitig ebenfalls als Schultheiß im Ort. Georg Scheerer verlor seine Eltern in jungen Jahren und fand wohl gemeinsam mit seinem Bruder geradezu familiären Anschluss bei der Familie von Carl Dölker. Dessen Söhne waren in ähnlichem Alter wie die Brüder Scheerer und verfolgten gemeinsame Interessen, etwa das Fußballspielen. Der Wahlkampf spitzte sich darauf zu, dass die NSDAP und der CSV Scheerer unterstützten. Demgegenüber setzten sich führende SPD-Männer für den konservativen bisherigen Bürgermeister Elsässer ein.

Im Wahlkampf überschwemmten beide Kandidaten die WählerInnen mit Verlautbarungen. Scheerer traf im Vorfeld der Verdacht, „Vetterleswirtschaft“ zu betreiben, wohl auch wegen seiner Verbundenheit mit der Unternehmerfamilie. „Sonst beherrscht der au s´Rathaus“, sagte ein zeitzeuge. Der scharfe Wahlkampf mobilisierte mit 95 Prozent fast alle Wahlberechtigten. Letztlich unterlag der NSDAP-Kandidat mit 45 Prozent. Die NSDAP habe, so ein Zeitzeuge später, „mit einem kolossalen Sieg gerechnet, denn der alte Bürgermeister war nicht sehr beliebt gewesen… Als nun das Wahlresultat herauskam, stellte sich heraus, dass die Partei eine Niederlage erlitten hatte und doch der alte Bürgermeister wiedergewählt wurde.“ Nun sei der Hass entbrannt.

Örtliche NSDAP-Akteure und nationalsozialistische Landesregierung intrigierten allerdings und verhinderten die Verlängerung der Amtszeit von Bürgermeister Elsässer. Der NSDAP-Landtagsabgeordnete Ernst Huber bat beim württembergischen Polizeiministerium um „Inschutzhaftnahme“ Elsässers, weil er „durch eine knappe sozialdemokratisch-kommunistische Mehrheit große Unruhe in der Gemeinde Gomaringen verursacht habe“. Ähnlich argumentierte NSDAP-Ortsgruppenleiter Wilhelm Beißwanger gegenüber dem Innenministerium. Das Innenministerium schickte letztlich einen überzeugten Nationalsozialisten als Bürgermeister Albert Sautter in die Gemeinde. Elsässer wurde Bürgermeister in Waldenbuch. Scheerer sollte bald darauf Bürgermeister in Isny im Allgäu werden.

Im Dorf, in Gomaringen, stand die Abrechnung aber noch aus. Die sollte am 21. April 14 Männer treffen. SA und Polizei inhaftierte die auf dem Rathaus und deportierte sie ins „Schutzhaftlager“ auf dem Heuberg. Das waren achtmal mehr als im württembergischen Durchschnitt.

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